58. Gefangener der Geister

von Heike Brand

Gefangener der Geister

(Die Ring-Ebene)

von Heike Brand

" Nein, Jordyr, nein! "

Der Schrei holte den jungen Krieger ohne Übergang aus tiefstem Schlummer in die düstere Wirklichkeit zurück,

in die mondlose Nacht, die er nahe der Kleinstadt am Innermeer unter freiem Himmel verbrachte.

Hatte jemand nach ihm gerufen?

Bestand vielleicht Gefahr?

Doch dann schüttelte er den Kopf.

Niemand konnte wissen, daß er zurückgekehrt war.

Es mußte ein Traum gewesen sein, ein Alptraum, wie er manchmal welche hatte; seltsam war nur, daß er sich für gewöhnlich beim Aufwachen erinnern konnte,

wovon er geträumt und was ihn in Angst und Schrecken versetzt hatte.

Er ärgerte sich ein wenig, denn er war durch den Schreck noch in Alarmbereitschaft und fühlte sich kaum mehr schläfrig.

Angestrengt lauschte er; doch durch die kühle Nacht drang nur das leise Geräusch sanfter Wellenschläge gegen das an dieser Stelle steile, felsige Innermeerufer.

Mißmutig brummelnd versuchte er, sich wieder in eine bequeme, erholsame Schlaflage zu wälzen.

" Jordyr, laß es sein! Bitte, spring nicht, du würdest ertrinken! Die Innermeerdämonen sind stärker als du! "

Da war sein Traum wieder.

*

Schon als kleiner Junge war Jordyr ein rechter Draufgänger gewesen, keine Felswand war ihm zu steil, kein Baum hoch genug, und er konnte keine Gelegenheit auslassen, sich

in irgendeinem tollkühnen Wettstreit mit den anderen Jungen zu messen.

Später brachten ältere Jungen ihm bei, daß man in dem kleinen See am Rand der Stadt schwimmen und tauchen konnte.

Kaum hatte Jordyr diese Sportart begriffen, war er nicht mehr aus dem Wasser herauszukriegen.

Er verließ das Naß erst, wenn er durch und durch fror - und im Sommer dauerte das seine Zeit, denn dieser See war ein seichtes Gewässer,

das die Sonnenwärme schnell aufnahm und lange festhielt.

Seine Mutter hatte nichts dagegen, daß er mit den anderen Jungen an dem kleinen See spielte und in dem klaren Wasser mit ihnen um die Wette schwamm.

Bei Strafe verboten hatte sie ihm aber, das ebenfalls nahe gelegene Innermeer aufzusuchen.

Die Inseln der Zeit verursachen unüberwindliche Strudel!

" Wellengeister und die Dämonen des Meeres treiben dort ihr Unwesen! " , hatte sie immer gesagt.

" Wenn ein Strudel dich erst einmal ergriffen hat und die Wellen dich forttragen, bist Du für immer verloren. "

Und:

" Die Kreisenden Inseln sind selbst Dämonen, grausame Geister der Zeit! " , hatte sie behauptet.

Geglaubt hatte Jordyr ihr nie; trotzdem hatte er versprochen, nur im See zu schwimmen und sich vom Innermeer fernzuhalten.

Tief in seinem Herzen entstand jedoch schon der Ansatz zu dem Wunsch, sich eines Tages über dieses Versprechen hinwegzusetzen und Ruhm, Anerkennung, ja Bewunderung einzuheimsen.

Schon daß ein männliches Wesen hierzulande von sich aus etwas Gewaltiges tun wollte, war fast mit einer Sensation gleichzusetzen.

" Jordyr, bitte sei doch vernünftig! Die Strömung des Meeres sieht langsam und harmlos aus, doch sie reißt dich sofort mit, du kannst nicht dagegen ankommen!

Niemand kann das, auch unsere Stärksten nicht! BLEIB HIER!!!. "

Lorija.

Jedesmal war sie es gewesen, die seine Mutter gewarnt hatte, wenn er in Richtung Meer losgezogen war.

Er hatte sich jedesmal wieder mit ihr darüber gestritten; er war der Meinung, daß niemand sich ihm zu widersetzen hatte,

am allerwenigsten ein Mädchen.

Sie waren schließlich nur locker befreundet gewesen.

Lorija hatte sich aber ständig aufgeführt, als sei sie seine ältere Schwester oder - noch schlimmer - sein Kindermädchen.

Irgendwann wollte sie ihn gar heiraten.

Jordyr hatte immer nur darüber gelacht.

Auch jetzt, da er schlief, spielte ein überlegenes Lächeln um seine Lippen.

Er würde sein eigener Herr sein und sich von einer Frau niemals etwas befehlen lassen.

Ihm schwebte etwas besseres vor als eine Fortsetzung des Lebens, das sein Vater immer geführt hatte;

er wollte nicht im Schatten einer Frau dahinvegetieren, die davon überzeugt war, besser als irgendein Mann zu sein - besser und stärker als der große Jordyr...

" Jordyr, zum letzten Mal flehe ich dich an: Spring nicht ins Meer! Beim Zorn der Geister, du bist verloren! So höre doch - JORDYR!!! "

Als er die Macht des Innermeeres versuchen wollte, war er etwa dreizehn Jahre alt gewesen; das war nun schon mehr als zwölf Jahre her.

Mit sechzehn hatte er die Gegend verlassen, weil einige Leute hier sich zu sehr in seine Angelegenheiten mischten, wie er meinte.

Hauptsächlich waren dies Lorija und seine Mutter.

Da sein Vater eh nichts zu sagen hatte - und daß überhaupt jemand über ihn bestimmen wollte, paßte ihm nun mal nicht.

Und dann auch noch Frauen! Es war hier zwar so üblich, aber trotzdem ging ihm das gewaltig gegen den Strich.

Manchmal redeten die Frauen hier in abfälligem Ton über Länder, in denen - im Gegensatz zu hiesigen Gepflogenheiten - die Männer über die Frauen bestimmten.

Solche Aussichten reizten und lockten Jordyr sehr.

Er hatte denn auch alles und alle hinter sich gelassen:

Lorija, seine Freunde, seine Familie, die Stadt.

" Zu Hilfe! Leute, kommt heraus und helft mir! Jemand ist in das Meer gefallen! Ein Seil, bringt ein Seil herbei! Zu Hilfe, so helft mir doch! H - I - L - F - E ! H - I - E - R - H - E - R ! "

Damals...

Er wußte nicht mehr genau, wie er mitten in der Nacht unbemerkt sein Elternhaus hatte verlassen können - aber mit schlafwandlerischer Sicherheit war es ihm gelungen.

Er wollte seinen innigsten Wunsch ausleben, seine selbstgewählte Bestimmung erfüllen.

Ja, er war in das Innermeer gesprungen und hatte die allmächtige Kraft der Strudel gespürt, doch hatte er zunächst nicht den Eindruck gehabt,

daß er der Macht der Wassergeister auch nur eine Sekunde unterlegen gewesen sei.

In der Tat, er hatte sich ihnen ebenbürtig gefühlt.

Noch nie zuvor hatte sich ein Mensch in das Innermeer gewagt, weder als Schwimmer noch mit einem Boot - niemand außer ihm,

kein Mann und auch keine Frau!

In ihm stieg ein Gefühl von Macht auf, als sei er der Beherrscher der Ebene, der ganzen Welt, nein, des gesamten Universums.

In der Ferne sah er die Stundeninsel langsam dahintreiben.

" Die hat noch niemand aus der Nähe besehen können! " schoß es ihm durch den Kopf.

Sofort erwachte der Forscherdrang in ihm, und er beschloß, dorthin zu schwimmen.

Doch da öffnete sich der Schlund eines weiteren Strudels genau vor ihm.

" Schnell, hierher! So beeilt Euch doch, Schwertschwinger, er ertrinkt! "

Dieser Strudel hier war stärker als die vorigen, die er fast mühelos durchschwommen hatte.

Es schien ihm nun, als griffen unsichtbare Hände nach ihm, deren einziges Ziel es war, ihn zu ertränken, sein Leben auszulöschen

. Langsam regte sich in ihm doch so etwas wie Angst - nur zu genau erinnerte sich Jordyr in seinem Traum daran, und die Erinnerung beschämte ihn.

Sollte Mutter tatsächlich recht gehabt haben?

Würde sein Leben hier und jetzt zu Ende gehen?

Er dachte daran, wie er damals dem Tod ins Auge gesehen hatte

-

und wie dann plötzlich eine Art rauhes, festes Band sich um ihn geschlungen und an ihm gezerrt hatte.

Jordyr konnte sich nicht mehr bewegen.

Er hatte Wasser geschluckt und konnte kaum noch atmen.

Als befände er sich irgendwie neben sich selbst - mehr gefühlt als tatsächlich gesehen - merkte er, daß wohl irgendein Kriegsmann ein langes Seil geworfen hatte; eine Schlinge, mit der dieser wirklich und wahrhaftig das Ding der Unmöglichkeit vollbracht hatte, ihn wieder einzufangen und dem Strudel zu entreißen.

So nah konnte Jordyr dem Ufer doch gar nicht mehr gewesen sein...

Nie war ihm klar geworden, wer den kampferprobten Mann zu Hilfe geholt hatte .

Lorija?

Mutter?

Jemand anders?

Woher war er so plötzlich gekommen?

Niemand hier schien ihn zu kennen; wohl nur aus reinem Zufall war er in dieser Gegend gewesen.

Sein Gedächtnis hatte noch die unbeherrscht herausgeschrienen Flüche und Kraftausdrücke parat, mit denen der Krieger das leichtsinnige junge Gemüse bedacht hatte.

Allzu deutlich waren ihm diese zu Ohren gekommen, als er völlig wehr- und hilflos näher an das felsige Ufer herangezogen wurde,

durch wilde Wellen und wütende Strudel hindurch, die ihr schon sicher geglaubtes Opfer nicht so leicht wieder hergeben wollten.

All diese Erinnerungen mischten sich mit seinen Phantasien und Träumen, wie ein weiterer Strudel, der ihn mit sich riß, ihn in einen Tunnel aus Ewigkeit zu schleudern schien;

in einen Tunnel, wo man nichts vergessen konnte und auch elbst nicht vergessen wurde, weil dort alles allgegenwärtig war.

**

Doch mit einemmal war da nur noch Schwärze; dann wurde er plötzlich so heftig gerüttelt, daß ihm schwindlig wurde.

Eine schrille Frauenstimme ertönte:

" So wacht doch auf und helft mir, Kämpe, ich will.s Euch auch reich lohnen - mein Junge ist in das Meer gestürzt! "

Sofort war er wieder hellwach.

Es war nicht mehr ganz so dunkel wie bei seinem ersten Aufwachen, denn inzwischen war einer der Monde aufgegangen.

Lautstark verfluchte er den Tag, da er sich entschlossen hatte, hierherzukommen.

Bei den Waldgeistern, in Zukunft würde er diese Umgebung lieber meiden

Hier konnte er kaum seine Kampfkraft unter Beweis stellen, da es sich hierorts nicht ziemte, daß Frauen mit Männern kämpften; aber ihre eigenen Kinder konnten sie nicht selbst aus dem Wasser ziehen.

Frauen! Kinder!

Er schüttelte sich.

Immer noch fluchend griff er nach seinem langen Kletterseil, lief hinter der Frau her zum Ufer und knotete sich dort eine Schlinge.

Diese schleuderte er unter weiteren unflätigen Schimpfworten in die Richtung, wo man inmitten eines ungeheuren Strudels einen kleinen, kaum mehr zappelnden Körper ausmachen konnte.

Der erste Versuch schlug fehl.

Beim zweiten aber hatte er den Jungen an der Leine, und begann, ihn an Land zu ziehen, wie einen frischgeangelten Fisch.

Wegen der Felsen unter Wasser und am Ufer mußte er sich ganz schön in acht nehmen.

Dabei schimpfte er ständig weiter wie ein Rohrspatz.

Als der Knirps - zwölf, dreizehn Lenze mochte der zählen - zitternd, mit Blutergüssen und tiefen Kratzern übersät, endlich vor ihm stand, war ihm trotz seines käseweißen Gesichts anzumerken, wie sehr er sich seiner leichtsinnigen Tat schämte,

denn selbst in dem schwachen Mondlicht sah man seine Ohren feuerrot leuchten.

Innerlich lachte Jordyr ihn aus. Er ließ es den Jungen jedoch nicht fühlen, sondern sprach stattdessen nun etwas freundlicher:

" Das ist ja gerade noch mal gutgegangen, du grünes Früchtchen. Erspare künftig deinen Alten die Sorge - und Kriegern wie mir die Drecksarbeit. Wie heißt du eigentlich?. "

Da sah der Junge ihn triumphierend an, und Jordyr fühlte beginnendes Entsetzen.

Ihm schien, als sei er in eine Art Wachtraum verfallen.

Oder hatte er etwa das rüde Aufwecken durch die Mutter des Jungen ebenfalls nur geträumt?

Schlief er vielleicht doch noch?

Und wenn nicht, was in aller Geister Namen war dann geschehen?

War nicht alles geauso gekommen wie damals bei ihm selbst?

Er hatte seinen Ausflug. schließlich auch überlebt und war sich trotz anschließender, gewaltiger Schelte wahrhaft allmächtig vorgekommen.

Wie aus weiter Entfernung hörte er die selbstbewußte Stimme des Jungen:

" Man nennt mich Jordyr, den Großen. Ich werde einmal genau wie Ihr ein starker und tapferer Krieger sein. " War so etwas möglich?

Jordyr wollte seinen Ohren nicht trauen.

Von den Anwesenden - wohl ein paar Verwandte und Freunde des Jungen, aber vielleicht auch Spätheimkehrer aus der Stadt, die nur neugierig waren -

wurde Gemurmel und Gekicher hörbar.

Dann stellte der Junge eine Frage.

" Und wie heißt Ihr, Kämpe? "

Jordyr hörte sie wohl hundertmal in seinem Kopf als Echo widerhallen.

Ihm wurde wieder schwindlig; er schwankte.

Das hier war kein Traum mehr; es war wohl die ganze Zeit über keiner gewesen.

Es schien alles zu stimmen, bis ins kleinste Detail, aber - konnte man denn seinen eigenen Tod verhindern?

Er wußte noch, als wäre es erst gestern gewesen, wie der ihm seinerzeit unbekannte Krieger auf diese Frage reagiert hatte.

Genauso hockte er sich nun vor diesen Jungen - oder besser vor sich selbst? - und erklärte ihm leise:

" Dein Name ist auch meiner, und ich kenne dich ebensogut wie mich. Auch ich bin als Kind einmal in das Innermeer gesprungen und wäre ebenfalls beinahe darin ertrunken.

Sei nur nicht wieder so leichtsinnig!

Ich gebe dir nun einen guten Rat, Kleiner; höre wohl und gehorche dieses eine Mal:

Geh nicht weg von hier.

Werde bloß kein Krieger!

Du hast hier alles, was du brauchst .

Sei nicht so unzufrieden, sondern nimm die Dinge, wie sie sind.

Du kannst sie nicht ändern; niemand kann das. Versuche, deine Bestimmung hier zu finden.

Vergiß die Länder der mächtigen Männer! "

Dann wandte er sich um.

Das ungläubige Gesicht, das der Junge machte, konnte er dadurch nicht mehr sehen; eben sowenig bemerkte er, wie der Kleine ein paar mal einen Finger gegen die Schläfe tupfte, um zu bekunden, was er von dieser Rede hielt.

Bis zum Morgengrauen würden noch Stunden vergehen, doch er wollte hier nicht länger verweilen.

Ebenso wie damals auch sein Retter nahm er nun seine Ausrüstung an sich und machte sich ohne weitere Worte auf den Weg;

wohin er allerdings gehen würde und wie sein Leben nun weitergehen sollte, das wußte er noch nicht so genau.

Die Dankesreden der Frauen wollte er nicht hören; unwillig winkte er ab, als sie ihm Geld anboten.

Auch wollte er den Rest der Nacht nicht im Haus der Mutter des Jungen verbringen, obwohl es sich eigentlich nicht gehörte, derartige Dankesbezeugungen auszuschlagen.

Allein die Vorstellung, daß die Zeit hier Gefangene gemacht, das Schicksal dieser Stadt und ihrer Bewohner untrennbar mit seinem eigenen verknüpft haben könnte -

und die Familie des jungen Jordyr gleichzeitig die seine sei - war ihm unerträglich.

***

Er antwortete einfach nicht mehr und sah sich auch nicht mehr um, als sie ihn riefen und baten, er möge doch noch bleiben; stur ging er weiter seines Weges.

Zutiefst verwirrt war er und bis ins Innerste aufgewühlt. Er machte sich Gedanken, versuchte zu verstehen, was er da soeben erlebt hatte - und warum, bei allen Waldgeistern - doch er vermochte es nicht.

Nur eines war ihm klar:

Ihm war Unmögliches widerfahren.

Er hoffte, daß er durch den Rat, den er dem Jungen gegeben hatte, die Geister irgendwann einmal überlisten und diesen Teufelskreis zu Ende führen konnte.

Seine Erinnerungen schienen ihn jedoch eines besseren belehren zu wollen.

Sollte es wirklich kein Entrinnen geben?

Er grübelte und überlegte noch geraume Zeit, ob sich nicht eine Lösung fände.

In seinem Kopf türmten sich Fragen über Fragen; doch er fand niemanden, der auch nur eine davon hätte beantworten können.

Fast ärgerte er sich, daß er sich niemals mit Wissenschaft und den Geheimlehren der Magie auseinandergesetzt hatte.

Seufzend setzte er seinen Weg fort.

Vielleicht oblag die Lösung seines Rätsels ja wirklich ganz allein den Geistern der Zeit...

© Heike Brand, 1996-03-08,

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