60. Die Insel

von Roland Stephan

Die Insel

( Die Vierte Ebene: Die Ring-Ebene)

Von Roland Stephan

Auf der Grenze zwischen heute und morgen, oder war es doch gestern, schwimmt eine Insel im Innenmeer.

Seit Ewigkeiten kreist sie um das Zentrum.

Die Insel ist nicht immer sichtbar, manchmal versteckt sie sich hinterm Horizont, bedeckt sich mit dichtem Nebel oder versinkt sogar in den

Fluten, um dann irgendwann unerwartet wieder als klarer Umriss an der Sichtlinie aufzutauchen.

Schnell näher kommend gewinnt sie an Gestalt.

Mal erscheint sie als zerklüfteter Felsen in einem tosend schäumenden Meer, mal als tropisches Eiland mit weitem Strand.

Immer aber trägt sie ein Leuchtfeuer mit dem reinen weißen Licht der Liebe.

Wenn ich die Insel betrete habe ich sofort die Gewissheit, immer hier gewesen zu sein.

Ich war nie weg, werde nie weg gehen.

Ich und die Insel sind eins.

Trotzdem sieht sie jedes Mal anders aus, zeigt neue Facetten und verweigert oft den Blick auf geliebte Erinnerungen, um ihn dann doch überraschend an anderem Ort freizugeben.

Meine Insel heißt Stundeninsel.

Ein blöder Name, ich weiß, aber ich habe ihn mir ja auch nicht ausgesucht.

Er war halt da, schon immer da, und wird immer da sein.

Sie ist nicht sehr groß, gerade eine Stunde.

Für eine Zeitinsel ist das wohl recht klein. Aber sie ist schön, mir gefällt sie; sie ist meine geliebte Insel.

Noch kleinere Inseln wie Minuten- und Sekundeninsel bilden fast so etwas wie ein gemeinsames Atoll mit meiner Insel, aber nur die Stundeninsel ist groß genug, um darauf zu leben.

Hier gibt es alles was ich brauche: sanftes Wasser rinnt kristallklar durch schmale Bäche, die wie Finger die Insel umklammern; süße Früchte locken allerorten mit zarten Erinnerungen.

Leider bin ich hier auf immer und ewig allein; kein Besucher erscheint je hier, kein Schiff kreuzt auch nur in Sichtweite. Das war nicht immer so.

Einen Tag, einen glücklichen, ewig langen Tag war ich hier mit meiner Geliebten zusammen. Aber das ist lange vorbei.

Nun bin ich hier allein und finde doch nicht die Kraft, die Insel zu verlassen und nach anderen zu suchen.

Nein, ich finde nicht einmal mehr den Wunsch in mir, dies zu tun.

Hier bin ich zuhause, hier sind meine Wurzeln.

Warum sollte ich gehen und wohin?

Jeder Versuch, die Insel zu verlassen, würde mich doch nur wieder zu ihr zurückführen.

Also lehne ich mich an einen Baum und träume.

Ende

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